Jeder hat schon einmal davon gehört: Die Ausbildungsskala der FN wird gerne zitiert, aber wie kann man sie sich im Training wirklich sinnvoll zunutze machen? Und gilt sie überhaupt für uns Westernreiter?

Dazu muss man zunächst überhaupt einmal wissen, wovon man da spricht. Die Ausbildungsskala oder Skala der Ausbildung wird oft nur im Zusammenhang mit dem Dressurreiten oder dem „Englischreiten“ genannt. Entwickelt von der FN, der Deutschen Reiterlichen Vereinigung, besteht sie aus den Elementen

TaktLosgelassenheit – Geraderichtung – AnlehnungSchwungVersammlung.

In diesem Blogbeitrag möchte ich ein paar Gedankenanstöße geben, wie zum Beispiel: Was bedeuten diese einzelnen Punkte? Oder: Warum sollten diese Punkte nicht genau so auch für uns im Westernreiten gelten? Oder tun sie das sogar?

Um dieser letzten Frage zu entsprechen, hat die EWU eine Ausbildungsskala fürs Westernreiten entwickelt, orientiert an der FN-Skala. In diesem Beitrag soll es daher auch darum gehen, wo die Unterschiede liegen, und ob sich nicht doch viel mehr Gemeinsamkeiten finden lassen.

Die von der EWU entwickelte Skala der Ausbildung der Westernreiter sieht wie folgt aus:

Takt – Losgelassenheit – Nachgiebigkeit – Aktivierung der Hinterhand – Geraderichtung – Absolute Durchlässigkeit

Im direkten Vergleich

FN-SKALA EWU-SKALA
Takt Takt
Losgelassenheit Losgelassenheit
Anlehnung Nachgiebigkeit
Schwung Aktivierung der Hinterhand
Geraderichtung Geraderichtung
Versammlung Absolute Durchlässigkeit

Um beide vergleichen zu können, sehen wir uns erst an, was die einzelnen Punkte bedeuten.

Die ersten beiden Punkte unterscheiden sich nicht. Warum das in einigen Punkten so ist, und was es für uns, aber auch und vor allem für unsere Pferde bedeutet, wird im Verlauf dieses Artikels hoffentlich nach und nach deutlich.

Takt

Was ist Takt?

Die einheitliche Definition von Takt im Pferdesport lautet:

Takt ist das räumliche und zeitliche Gleichmaß aller Schritte (im Schritt), Tritte (im Trab) und Sprünge (im Galopp).

Etwas einfacher ausgedrückt könnte man auch sagen, dass alle Schritte, Tritte und Sprünge – je nachdem, in welcher Gangart das Pferd und wir uns befinden – gleich groß sein und gleich lang dauern müssen. Wenn man hierbei an Musik denkt, zu der man mit dem Fuß wippt, wird einem das sehr schnell deutlich.

Losgelassenheit

Was ist Losgelassenheit?

Um zu beschreiben, was Losgelassenheit ist, macht euch bewusst, dass keine Bewegung – egal ob eines menschlichen Körpers oder dessen eines Pferdes – möglich ist ohne Muskelspannung. Gleichzeitig soll diese Muskelspannung aber so gering sein, dass sie gerade ausreicht, die Bewegungsabläufe locker abzufedern.

So wenig Muskelspannung wie möglich, so viel wie nötig.

Das nennt man auch positive Muskelspannung.

Haben wir diese ersten beiden Punkte der Ausbildungsskala erreicht und unser Pferd läuft im Takt und losgelassen, so ist der Grundstein für alles weitere gelegt. Und zwar in beiden Reitweisen.

Wichtig zu erwähnen: Losgelassenheit hat einen körperlichen und mentalen, also psychischen Aspekt. Ein Pferd muss auch mental in der Lage sein, sich „loszulassen“, in dem Sinne dass es sich auf das, was wir von ihm fordern, einlassen kann.

Ich stelle mir oft die Frage, ob nicht die Losgelassenheit vorm Takt stehen müsste. Und komme im Training sowie auch im Unterricht immer wieder darauf zurück, dass sie sich wohl mehr als alle anderen Punkte der Skala gegenseitig bedingen.

Takt und Losgelassenheit verhalten sich wie Huhn und Ei.

Doch die mentale Losgelassenheit würde ich persönlich definitiv noch vor den Takt stellen.

Wo beginnen die Unterschiede – und warum?

Da nun, nach diesen beiden ersten Punkten, die Unterschiede beginnen, gehe ich ab hier vorrangig auf die „Westernbegriffe“ ein, natürlich nicht ohne sie mit denen der „Englischreiter“ abzugleichen.

Denn: Je genauer man sich damit beschäftigt, desto mehr stellt sich die Frage: Ist mit den unterschiedlichen Bezeichnungen vielleicht zum Teil dasselbe gemeint?

Nachgiebigkeit

Was ist Nachgiebigkeit?

Unumgänglich für jeden Umgang – ob reiterlich oder am Boden – ist die Bereitschaft unseres Pferdes, auf unsere Einwirkung hin nachgiebig zu reagieren. Wenn ich bei einem Jungpferd am Seil Zug ausübe, möchte ich, dass es folgt. Wenn ich es mit den Fingern an der Schulter antippe, dass es weicht. Der Grundsatz

Druck erzeugt Gegendruck

muss in der Pferdeausbildung umgewandelt werden in

Druck bringt das Pferd zum Nachgeben.

Und da haben wir sie: die Nachgiebigkeit.

Auch sie ist sowohl auf körperlicher als auch auf mentaler Ebene ausschlaggebend. Ein Pferd muss zunächst „wissen“, dass es sich die Sache einfacher machen kann, indem es nachgibt, und das ist erst einmal etwas Mentales. Das Pferd kann sagen: „Nie gehört von sowas. Nachgeben??? Ich??? Niemals!!!“ Oder es hat gelernt, dass es gut ist, nachzugeben und sagt „Ja, früher hab ich dagegen gezogen, aber mittlerweile hab ich erkannt, dass der Druck nachlässt, wenn ich nicht dagegen gehe.“ Die Bereitschaft, nachzugeben, entsteht im Mentalen und geht dann über auf das Körperliche. Daher müsste für mich die mentale Nachgiebigkeit zusammen mit der mentalen Losgelassenheit am Anfang der Skala stehen.

Typische Beispiele für ein Pferd, das nicht gelernt hat, auf Druck nachzugeben

Das Pferd hat die Nase im Gras und der Mensch bekommt das Pferd am Strick nicht mehr nach oben gezogen.
Der Mensch steht in der Waschbox und das Pferd stemmt sich dagegen, weil es da nicht rein möchte.
Das Pferd steht auf der Anhängerrampe und lässt sich nicht hineinführen oder -schicken.
Ein Pferd verwickelt sich im Anbindeseil und bekommt Panik aufgrund des Drucks, der auf es einwirkt.
Ein Pferd unterm Reiter läuft mit nach oben gestrecktem Hals und weggedrücktem Rücken.

Anlehnung – Selbsthaltung – Annehmen – Nachgeben

Nicht so ganz auf der Hand liegt auf den ersten Blick der Zusammenhang mit der Anlehnung, von der die Englischreiter sprechen. Aber es gibt ihn.

Die Anlehnung beim (Englisch-)Reiten bedeutet ja nichts anderes, als dass mein Pferd, wenn ich Kontakt mit der Hand herstelle, zum Beispiel durch eine annehmende oder durchhaltende Zügelhilfe, sich nicht dagegenstemmt, sondern den Kontakt willig annimmt, sich an die Reiterhand herandehnt, ohne dass seine Losgelassenheit und der Takt seiner Bewegung sich verändern.

Jetzt wird es interessant, denn hier beginnt der erste bedeutende Unterschied zwischen den Reitweisen. Wir Westernreiter möchten eben nicht, dass das Pferd sich „anlehnt“, sondern dass es „sich selbst trägt“. Jetzt wird einigermaßen klar, warum das so ein weiter Weg ist, stimmt’s?

An dieser Stelle kann man sich die ersten Gedanken darüber machen, ob die Idee dahinter wirklich so unterschiedlich ist, oder nur die Bezeichnung. Englischreiter sollten genau so zum Ziel haben, dass das Pferd beim Annehmen nachgibt (und das haben sie auch, ich bin als Kind englisch geritten und kann mich gut daran erinnern, wie oft ich dieses „Annehmen-Nachgeben“ im Reitunterricht gehört habe). Der Unterschied liegt im nächsten Schritt: Wir möchten im Westernreiten annehmen und bei Nachgiebigkeit des Pferdes in Maul und Genick ebenfalls nachgeben und loslassen. Der Englischreiter möchte annehmen und bei Nachgiebigkeit des Pferdes in Maul und Genick nicht loslassen, sondern eine elastische Verbindung zwischen Pferdemaul und Reiterhand aufrechterhalten.

Ganz eindeutig liegt hierin also ein bedeutender Unterschied der beiden Reitweisen. Während die einen eine Anlehnung suchen, die für sie dann ein Ziel darstellt, ist die Anlehnung bei uns nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Loslassen – und zur oben bereits erwähnten Selbsthaltung (zum Pferd, das sich selbst trägt). Trotzdem müssen wir beide über die Nachgiebigkeit dorthin gelangen. Und während die Englischreiter an diesem Punkt ihrer Skala der Ausbildung die Anlehnung als das Ziel beschreiben, ist für uns Westernreiter die Nachgiebigkeit das Ziel, da dieses auch zum Nachgeben der Reiterhand (zu einer nachgebenden Zügelhilfe) führt und dieser Vorgang automatisch eine kurze Sequenz der Selbsthaltung des Pferdes mit sich bringt. An dieser Stelle kennt der Englischreiter das „Überstreichen“, um kurz zu überprüfen, ob das Pferd sich selbst trägt. Und in diesen zwei Sekunden des Überstreichens findet sich eine Überschneidung der Reitweisen. Der Englischreiter nimmt danach auch das fertig ausgebildete Pferd wieder an, um es wieder in die Anlehnung zu holen. Der Westernreiter tut dies mit dem auszubildenden Pferd, um es erneut nachgeben zu lassen. Beim fertig ausgebildeten Westernpferd sollte das nicht mehr nötig sein.

Aktivierung der Hinterhand oder Schwung

Auch hier sind die beiden Reitweisen näher beieinander, als man auf den ersten Blick denkt. Es ist der Punkt, an dem ich am allermeisten eine reine Begriffsunterschiedlichkeit vermute.

Während wir es Aktivierung der Hinterhand nennen, bezeichnen die Englischreiter diesen Punkt in ihrer Skala als Schwung.

Was ist gemeint?

Aktivierung der Hinterhand bedeutet zunächst, dass wir möchten, dass unser Pferd die Hanken mehr beugt (Hankenbeugung könnte zum Beispiel an dieser Stelle der Skala ebenfalls stehen) und somit seine Hinterhand aktiver einsetzt.

Hankenbeugung ist die vermehrte Winkelung von Knie- und Hüftgelenk.

Geschieht dies (und das erreichen wir übrigens unter anderem über Anlehnung), tritt das Pferd automatisch mit den Hinterbeinen weiter unter seinen Bauch und somit seinen Schwerpunkt. Voilà: Die Hinterhand ist aktiviert.

Dieser anatomische Umstand bewirkt nun eine Kräfteübertragung von der Hinterhand des Pferdes nach vorne und das nennt man Schwung. Je nach Anatomie des Pferdes ist dieser dann stärker oder etwas moderater ausgeprägt und macht das Pferd für den Reiter bequemer oder etwas anstrengender zu sitzen.

Eine wichtige Gemeinsamkeit: Das Geraderichten

Was ist denn ein geradegerichtetes Pferd?

Auch hier gibt es eine klare Definition. Geradegerichtet ist unser Pferd dann, wenn es

auf geraden und gebogenen Linien mit den Hufen der Hinterhand in die Spuren der Hufe seiner Vorhand fußt.

Was das genau bedeutet und wie das erreicht werden kann, zeige ich euch gerne im Unterricht. Ihr sollt ja auch noch einen Grund haben, zu mir zu kommen.

Klar ist, dass ein Pferd, das geradegerichtet ist, einen Vorteil bei der oben beschriebenen Kräfteübertragung hat. Die Geraderichtung hat etwas mit der Geschmeidigkeit des Pferdekörpers und somit auch mit seiner Losgelassenheit und Nachgiebigkeit zu tun.

Ich finde es beim Reiten und beim Unterrichten immer wieder absolut faszinierend, wie alle Punkte der Ausbildungsskala (welcher auch immer) immer wieder ineinandergreifen, sich gegenseitig beeinflussen, ermöglichen und bedingen.

Die absolute Durchlässigkeit des Westernpferdes

Hier sind wir bei dem Punkt angelangt, von dem ich persönlich es für möglich halte, dass Englischreiter und Westernreiter vielleicht nicht ganz dasselbe meinen.

Der Englischreiter geht von der Geraderichtung direkt über zu etwas, das er Versammlung nennt. Es ist nicht so, dass es das bei den Westernreitern nicht gibt. Der Westernreiter spricht ebenfalls oft und viel von „collection“.

Das englisch gerittene Pferd muss an dieser Stelle ja nun ein anderes Bild abgeben, als das westerngerittene, zumal der Englischreiter den Zügelkontakt aufrechterhält, während der Westernreiter sein Pferd längst ganz losgelassen hat.

Wir haben also ein Pferd-Reiter-Paar, bei dem der Mensch dem Pferd eine Anlehnung und somit einen Rahmen gibt, in dem es sich – am Ende hoffentlich versammelt – bewegt. Und wir haben ein Pferd-Reiter-Paar, bei dem sich das Pferd unterm Reiter selbst trägt und dies mit aktiver Hinterhand, geradegerichtet und die Hilfen des Reiters (möglichst nur noch wenig über die Einwirkung der Hand) in absoluter Durchlässigkeit, also ohne jeglichen Widerstand, annimmt.

Auch hier gilt wieder: Der körperlichen Durchlässigkeit geht eine mentale, psychische Durchlässigkeit, also die Bereitschaft, die Hilfen durchzulassen, voraus.

Aber ist das Versammlung?

Ein versammeltes Pferd läuft mit perfekt auf seine Vor- und Hinterhand verteiltem Gewicht. Es befindet sich also in Balance. Dies kann es nur, wenn es im Takt läuft und dabei vollkommen losgelassen ist. Es reagiert auf jegliche Reiterhilfen willig und nachgiebig. Es läuft mit aktiver Hinterhand und tritt mit seinen Hinterhufen genau in die Spur seiner Vorderhufe und nicht seitlich daran vorbei, weil es im Körper geschmeidig und biegsam ist. In diesem Zustand wird es von hinten nach vorne durchlässig sein, das definiert auch der Englischreiter so.

Der „durchlässige Gehorsam in der Versammlung“, der durch „Takt, Losgelassenheit, reinen raumgreifenden Gang, Längsbiegung und Geraderichtung“ erreicht wird, ist für den Englischreiter die „Krone der Ausbildung“.  Waldemar Seunig (2001): Von der Koppel bis zur Kapriole. Die Ausbildung des ReitpferdesDocumenta Hippologica, Seite 283

Wo bleibt die Balance?

Für mich persönlich fehlt in beiden Varianten der Ausbildungsskala die Balance. Sie kommt für mich noch vor der Durchlässigkeit der Westernreiter und wäre gewissermaßen gleichzusetzen mit der Versammlung der Englischreiter.

 

Eine gemeinsame Ausbildungsskala für beide?

Da ich mir immer sehr viele Gedanken rund um Theorie, Biomechanik, Psychologie und Techniken rund ums Pferdetraining mache, und immer schon auch mit einem halben Auge auf die Skala der Ausbildung der Englischreiter blicke, ist für mich die Verknüpfung beider Skalen unumgänglich. Ich finde, wir Westernreiter können ebenso von den Englischreitern lernen wie auch umgekehrt. Auch ist für mich entscheidend, dass die Ausbildungsskala einen Weg zeichnet, der zu einem Ziel führen soll. Der Weg dorthin (also zum absolut durchlässigen, in Balance und Selbsthaltung zufrieden laufenden Pferd) ist sicherlich nicht mit jedem Pferd in jeder Situation gleich. Auch kann es einen Unterschied machen, ob ich ein Jungpferd ausbilde, ein erwachsenes, ausgebildetes Westernpferd trainiere, oder ein Englischpferd auf die Westernreitweise umstelle. Und komme ich mit einem Pferd an einem Punkt nicht weiter, schadet es nicht, über den vielzitierten Tellerrand hinaus und zum Beispiel einmal in die Techniken und Methoden (oder: Definitionen) einer anderen Reitweise zu blicken.

Unten seht ihr meinen Versuch einer Ausbildungsskala, die reitweisenunabhängig gelten könnte.

Mentale Losgelassenheit und mentale Nachgiebigkeit
Takt
Körperliche Losgelassenheit
Balance
Körperliche Nachgiebigkeit / Anlehnung auf dem Weg zur Selbsthaltung
Mehr Hankenbeugung zur Aktivierung der Rückentätigkeit
Geraderichten
Mentale und körperliche Durchlässigkeit

Wie nun diese Elemente beider oder einer von beiden Varianten der Ausbildungsskala dir und deinem Pferd im Training weiterhelfen können, wie du sie erarbeiten, einsetzen und überprüfen kannst, das zeige ich dir sehr gerne in meinem Unterricht.

Ich freue mich auf dich und dein Pferd!